M. Somm: Elektropolis an der Limmat

Cover
Titel
Elektropolis an der Limmat. Baden und die BBC, 1870 bis 1925
Weitere Titelangaben
Die Beschreibung einer Transformation


Autor(en)
Somm, Markus
Erschienen
Bern 2019: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
735 S.
Preis
€ 90,00; CHF 90.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Bruno Meier, Freiberuflich

Die 1891 gegründete Brown, Boveri & Cie. BBC in Baden ist Teil des wirtschaftlichen Aufschwungs der Schweizer Industrie in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Als vergleichsweise späte Gründung war sie Teil des Booms der sich entwickelnden Elektrotechnik-Branche und gehörte selbst zu den Treibern dieser Entwicklung. Der Historiker und Journalist Markus Somm legt mit seiner an der Universität Freiburg eingereichten Dissertation über die Frühzeit der Firma eine materialreiche und gut lesbare Untersuchung vor. Er orientiert sich in seiner „Case Study“ am vor allem im englischsprachigen Raum untersuchten Konzept der „Company Towns“, das heißt Städten, die stark durch Unternehmer und Industriefirmen geprägt waren oder erst durch die Gründung eines Unternehmens entstanden sind. In der Schweiz ist dieser Ansatz noch nie grundlegend angewandt worden, in Ansätzen in Arbeiten von André Kienzle über von Roll/Gerlafingen, von Peter Heim über Bally/Schönenwerd oder von Tobias Ehrenbold über Bata/Möhlin.1 Speziell für Baden ist, dass die Stadt als Company Town der BBC sich in sehr kurzer Zeit markant verändert und ihr Image als Kurstadt – quasi als Company Town der Bäder – in kurzer Zeit verliert. Diese rasche Transformation steht im Zentrum des Buches.

Das Buch ist in drei große Abschnitte gegliedert: Grundlagen, Gründerzeit und Transformation. In den Grundlagen geht der Autor einerseits auf die Theorie des Konzepts Company Town ein, vergleicht knapp 40 Orte, präsentiert eine kleine Typologie dieses Ansatzes und schlägt acht mögliche Ausprägungen vor. Er weist dabei insbesondere auch auf die teilweise sehr unterschiedlichen institutionellen und verfassungsrechtlichen Voraussetzungen hin: Mit der Revision der Bundesverfassung von 1874 besaß die Schweiz ein System, das sehr dezentral und partizipativ angelegt war, das heißt Ansiedlung von Industrie brauchte die Zustimmung der politischen Institutionen, im konkreten Fall der Versammlung der stimmberechtigten Bürger. Der Gegensatz Kurstadt – Industriestadt ist in der vorgelegten Typologie schwer unterzubringen und Baden erscheint gewissermaßen als Sonderfall. Der Vergleich zu Wiesbaden ist dabei illustrativ: ein Bäderort, der sich durch fürstliche Förderung im 19. Jahrhundert stark entwickelt hatte und in dem Behörden und Kurort sich gegen die Ansiedlung von Industrie aktiv wehrten.

Unter den Grundlagen beschreibt Somm die Situation des Kurorts vor 1890, die einerseits geprägt war durch einen Aufschwung und eine Internationalisierung des Bädertourismus. Industrie hatte sich im kleineren Stil angesiedelt, aber eher dezentral in Bezug auf den Kurort. Baden hatte andrerseits aber schwere Rückschlage zu verkraften in den 1870er- und 1880er-Jahren mit dem zuerst gescheiterten Start des Grand Hotels, das erst im zweiten Anlauf zum Erfolg fand, den Schwierigkeiten des Aufbaus einer Kurinfrastruktur (Kursaal) und vor allem dem gescheiterten Nationalbahn-Projekt, das die Stadt ab 1878 finanziell in schwere Schieflage brachte. Den ersten Teil abschließend diskutiert der Autor Theorien zu Unternehmern und Unternehmertum als Auftakt davon, sich im zweiten Großkapitel mit den Gründerpersönlichkeiten auseinanderzusetzen.

Der Abschnitt Gründerzeit umfasst deshalb zuerst eine Beschreibung der beiden Gründer der BBC, Charles Brown junior und Walter Boveri, verkürzt gesagt das Zusammenkommen des kreativen Ingenieurs und des innovativen Kaufmanns. Zum Verständnis der Biografie von Charles Brown gehört die Auseinandersetzung mit seinem gleichnamigen Vater, der 1851 von Sulzer nach Winterthur geholt wurde und maßgeblich die Entwicklung der Dampfmaschine und später die Maschinenfabrik Oerlikon MFO sowie die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik SLM in Winterthur prägte. Brown junior gelingt 1891 in Kooperation mit der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft AEG sein Meisterstück mit der Stromübertragung an der Elektrotechnischen Ausstellung in Frankfurt. Diese kommt nicht aus dem Nichts, hat er doch als leitender Ingenieur der MFO mit Unterstützung des Firmenchefs Emil Huber das Potenzial der sich anbahnenden Elektrifizierung erkannt. Gleichzeitig mit Browns Erfolg in Frankfurt ist zusammen mit Walter Boveri die Gründung einer eigenen Firma in Planung. Boveri, der Brown bei der MFO kennenlernt, kann die Finanzierung des Starts mit Kapital seines Schwiegervaters Conrad Baumann aus Zürich sicherstellen. Der Autor beschreibt in der Folge die lokalpolitischen Voraussetzungen des Standorts Baden, die Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der Elektrifizierung, insbesondere auch das personale Netzwerk und die politischen Entscheidungswege, die es für den Start brauchte.

Der dritte Teil des Buches ist der Hauptteil der Arbeit und setzt sich mit der Transformation der Stadt in den drei Jahrzehnten nach der Gründung der Firma auseinander. Ein erster Teil beschreibt das rasante Wachstum der Firma, die technologisch weltweit an der Spitze steht und die damit verbundene starke Exportorientierung der BBC von Beginn an. Dies unterscheidet die Firma in dieser Zeit auch von ihrer Konkurrenz im eigenen Land. Boveri kann mit der Gründung der Motor AG als Entwicklungs- und Finanzierungsgesellschaft 1895 das Wachstumsproblem lösen und so die BBC auch gegenüber der internationalen Konkurrenz wie der AEG oder Siemens & Halske positionieren. Mit dem Erwerb und der Weiterentwicklung des Parsons-Patents für die Dampfturbine steht der Treiber des Wachstums nach 1900 bereit.

In der Folge geht der Autor auf die Auswirkungen auf die Stadt und insbesondere die politische Situation ein. Walter Boveri engagiert sich als Finanzpolitiker in der Stadt und hat zuerst mit dem freisinnigen Stadtrat Carl Pfister und dann mit dem späteren Stadtammann, dem liberal-demokratischen Josef Jäger, die politischen Partner dazu. Die politische Situation bleibt aber labil, Brown und Boveri docken nicht an einem bestehenden Bürgertum an, sondern bleiben in ihrer eigenen Welt. Sie und ihr Umfeld prägen mit mehreren Villenbauten das Stadtbild und die Firma strahlt ab 1898 mit Wohnbauten für Arbeiter und Angestellte in die Region aus. Die Distanz zu den vor 1890 bestimmenden Kurhoteliers ist gross. Mit einer Analyse von Steuerdaten zeigt Somm, dass die Industriellen die Hoteliers in kurzer Zeit wirtschaftlich überrunden und abhängen. Bis zum Ersten Weltkrieg stellt die BBC mit ihrem starken Wachstum die wirtschaftliche Wertschöpfung total auf den Kopf und löst die Bäder als „Leitindustrie“ ab. Und mit dem Ausbruch des Krieges fällt der Kurort in eine tiefe Krise.

Die beiden Firmengründer sterben relativ jung kurz nacheinander im Jahr 1924. Ihre Freundschaft war schon 1911 zerbrochen, Charles Brown hatte sich weitgehend zurückgezogen. Im Gegensatz zu Boveri hatte er sich auch nie in die lokalpolitischen Belange eingemischt. Das Todesjahr der Beiden markiert auch eine schwere Krise der Firma. In den nächsten 15 Jahren folgen sich teils weltwirtschaftlich bedingte Höhen und Tiefen. Die BBC konsolidiert sich in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre mit dem Wiedereinstieg von Walter Boveri junior und legt nach 1945 erneut ein beispielloses Wachstum hin.

Markus Somm legt mit seiner Arbeit zur Frühzeit der BBC eine quellennahe Fallstudie vor, die am Beispiel der BBC den Aufstieg des Industrielandes Schweiz in der Zeit vor und nach 1900 aufzeigt. Das Buch ist sehr umfangreich geworden, es weist zahlreiche Redundanzen und Zusammenfassungen auf, manchmal wäre weniger mehr gewesen. Trotzdem liest es sich flüssig. Drei kritische Punkte seien abschließend erwähnt:

Somm ordnet den ersten großen Arbeitskonflikt von 1899, der relativ gut untersucht ist2, richtig in seine Argumentation ein. Auf den Streik hatte die Firmenleitung ursprünglich sehr hart reagiert, Stadt- und Regierungsrat erreichten aber eine Vermittlung, die zu einem ersten Baustein von Sozialpartnerschaft führte, der Bildung einer Arbeiterkommission. Die Sphären von Unternehmung und Gesellschaft konnten versöhnt werden. Unverständlich ist aber, dass er unter diesem Blickwinkel den Landesstreik von 1918 nicht thematisiert, trotz neuerer Forschungen3 – gerade weil der Landesstreik die Bedeutung der verschiedenen Sphären von Wirtschaft und Politik deutlich zeigt. Der Streik wurde in Baden nur teilweise befolgt, da sich die christlich-sozial organisierten Angestellten davon distanziert hatten. Das militärische Aufgebot stand unter dem Kommando eines einheimischen Bäderhoteliers, der Stadtrat versuchte eine Mitteposition einzunehmen. Dies vor dem Hintergrund von Radikalisierungspotenzial seitens Zürcher Gewerkschafter, die in Baden agitierten, und der drohenden Bildung einer Bürgerwehr von rechts.

Ein Zweites: Auch wenn Winterthur nicht dem klassischen Konzept einer Company Town entspricht, die Ausgangslage war anders, die Industrie diversifizierter, wäre doch ein genauerer Vergleich zu dieser Stadt lohnend, insbesondere in Bezug auf das Verhältnis von Wirtschaft und Politik. Im Gegensatz zu den Winterthurer Industriellen, die sich aus der Stadtgesellschaft rekrutierten und sie prägten, blieben die BBC-Gründer der städtischen Sphäre Badens fremd. Es entstand rund um sie keine neue bürgerliche Gesellschaft. Bezeichnenderweise gibt es in Baden, mit Ausnahme der Villa Langmatt, kaum industrielles Mäzenatentum, dies im starken Gegensatz zu Winterthur. Die BBC produzierte hingegen eine starke Ingenieurgesellschaft, die in späterer Zeit vor allem die Region prägen sollte.

Ein Drittes: Die These der Transformation von Baden von der Kur- in eine Industriestadt unter dem Modell der Company Town erscheint durchaus stringent. War sie 1924 abgeschlossen, wie der Autor am Schluss schreibt? Die Beschränkung auf die Zeit bis 1925 mag vor dem Hintergrund des Todes der beiden Firmengründer richtig sein. Interessieren würde hingegen: Was blieb davon? Wie stark war diese Transformation von den beiden Akteuren und ihrem Umfeld beziehungsweise besonders von Walter Boveri getrieben? Ist der starke Einfluss, den Boveri direkt oder über seine Netzwerke auf die Politik ausübte, als Kultur, als Struktur, bestehen geblieben? Dabei wäre ein Vergleich zur Zeit nach 1945, die von einem ähnlich rasanten Aufschwung geprägt war, interessant. In dieser Zeit begann man auch von der „Familie BBC“ zu reden, eine Gesellschaft, in der der Autor selbst aufgewachsen ist. Die Firma prägte erneut und nachhaltig nicht nur die Stadt, sondern die ganze Region. Die Ingenieure zogen aufs Land und engagierten sich in der Gemeindepolitik. Diese enge Verzahnung strahlte bis weit in die 1980er-Jahre aus. Aber das wäre wohl ein zweiter Band, der ebenso dick würde.

Anmerkungen:
1 André Kienzle, „Es gibt nur ein Gerlafingen!“ Herrschaft, Kultur und soziale Integration in einer Standortgemeinde des Stahlkonzerns Von Roll, 1918–1939, Zürich 1997; Peter Heim, Königreich Bally: Fabrikherren und Arbeiter in Schönenwerd, Baden 2000; Tobias Ehrenbold, Bata. Schuhe für die Welt, Geschichten aus der Schweiz, Baden 2012.
2 Christian Müller, Arbeiterbewegung und Unternehmerpolitik in der aufstrebenden Industriestadt. Baden nach der Gründung der Firma Brown Boveri 1891–1914, Baden 1974.
3 Für Baden vgl. u.a. Patrick Zehnder, Hundert Jahre Ringen um die „richtige Deutung“. Der Landesstreik von 1918 in der Region Baden, in: Badener Neujahrsblätter 93 (2018), S. 122–133; Ders., Flugblätter gegen blanke Säbel. Physische und symbolische Raumeinnahme im Aargau während des Landesstreiks 1918, in: Argovia 129 (2017), S. 49–72.

Redaktion
Veröffentlicht am
09.06.2020
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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